Gelbe Krokusblüten durchbrechen eine Schneedecke

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Wachstumsmotoren der Seele

„Ich krieg die Krise“, ist ein gern benutzter Ausspruch, wenn etwas nicht nach den eigenen Vorstellungen gelingt. In der Psychologie erforscht man die Auswirkungen so genannter kritischer Lebensereignisse, wie z.B. dem Arbeitsplatzverlust, einer Krankheit oder auch Folgen für die Eltern bei der Geburt von Kindern. Der Fokus wird also auf Lebenssituationen gelenkt, die mit einer deutlichen Veränderung des Alltagslebens einhergehen.

Nüchtern betrachtet könnte man auch von Übergängen sprechen. Der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson beschreibt acht solcher altersspezifischen Übergänge, die unserem Leben eine identitätsfördernde Wirkung verleihen: die Entwicklung des Urvertrauens und der Autonomie, die Entfaltung von Entschlusskraft und Leistungsfähigkeit, die Herausbildung von Identität und der Fähigkeit zur Intimität und dann im Erwachsenenalter das Erleben von Produktivität und Integrität – wenn diese Übergänge erfolgreich gemeistert werden können.

Was passiert während dieser Übergänge? Man könnte sagen, der Betroffene ist in einem „Nicht-mehr,-noch-nicht“-Stadium. Nicht mehr Kind, noch nicht erwachsen. Nicht mehr werktätig, noch nicht alt. Oder auch: Nicht mehr in Aachen, noch nicht in Dresden. Gefühle, die dabei entstehen, sind manchmal geprägt von Unsicherheit, Hilf- und auch Orientierungslosigkeit.

Allerdings führt ja der Übergang auch irgendwo hin. Er hat ja ein Ziel und auch eine Bedeutung. Wir werden auf die Probe gestellt, können daran reifen und uns manchmal für ganz neue Lebenseinsichten oder -aussichten öffnen.

Auch in der Natur verändern sich fortwährend Zustände: z. B. das Wetter mit den gegenwärtigen Klimaveränderungen, Mutation und Selektion im Tierreich oder hormonelle und biochemische Prozesse in unserem Körper. Wir selbst, d. h. unsere Seele, braucht sie auch, diese manchmal schmerzvollen Übergänge, die uns reifen und entwickeln lassen. Ich denke an einen Abhängigkeitskranken, der sich endlich zu einer Entgiftung entschließt, oder an die gewalterfahrene Ehefrau, die die Kraft bekommt zu gehen. An den Mann, der nach dem Schlaganfall kämpft, um wieder selbständig laufen zu lernen, oder an Menschen, die während oder nach ihrer Erkrankung von einer inneren Wandlung berichten, die Ihnen geholfen hat, die Kostbarkeit des Lebens ganz neu zu erfahren.

Anthony de Mello beschreibt in einer scheinbar harmlosen Geschichte die beeindruckende Haltung eines Landwirtes beim Umgang mit Veränderungen:

Ein alter chinesischer Bauer besaß ein altes Pferd für die Feldarbeit. Eines Tages entfloh das Pferd in die Berge, und als alle Nachbarn des Bauern sein Pech bedauerten, antwortete dieser: „Pech? Glück? Wer weiß?“

Eine Woche später kehrte das Pferd mit einer Herde Wildpferde aus den Bergen zurück, und diesmal gratulierten die Nachbarn dem Bauern wegen seines unerhörten Glücks. Seine Antwort hieß abermals: „Glück? Pech? Wer weiß?“

Als der Sohn des Bauern versuchte, eines der Wildpferde zu zähmen, fiel er vom Rücken des Pferdes und brach sich ein Bein. Jeder hielt das für ein großes Pech. Der Bauer meinte lediglich: „Pech? Glück? Wer weiß?“

Ein paar Wochen später marschierte die chinesische Armee ins Dorf und zog jeden tauglichen jungen Mann ein, den sie finden konnte. Als sie den Bauernsohn mit seinem gebrochenen Bein sahen, ließen sie ihn zurück. Hier endet die Geschichte und wir können ahnen, was der Landwirt nun sagen wird.

Wahrscheinlich wird es uns nicht gelingen, in allen Lebenssituationen die Ruhe des chinesischen Bauern zu bewahren. Ich bin allerdings überzeugt, dass allein schon das Bemühen, auch im Pech das Glück zu suchen, in jedem Fall belohnt wird. Schauen Sie auf die Krokusblüten, die sich trotz der kalten Schneedecke für einen wohltuenden Sonnenstrahl öffnen.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie erhobenen Hauptes durch welche Übergänge auch immer gehen können, Sie die Wachstumsmotoren darin entdecken oder vielleicht  irgendwann in das Motto des Bauern einstimmen:

„Glück, Pech? Wer weiß?“

Mit herzlichem Gruß,
Andree Gauer

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